Nachdenkliches
Lass dich überraschen
Täglich gehe ich an diesem Bild vorbei. Es hängt in unserem Flur – schon seit Wochen. Mein Sohn hat es gemalt. Gemeinsam mit seiner kleinen Freundin. Kinderbuntgekritzel, Form und Farben quer durcheinander - kaum auffällig für mich..
Eines Morgens werde ich von meinem Sohn im Flur aufgehalten. „Papa, da ist ein kleiner Jaguar!“ Er steht vor dem Bild und deutet auf ein paar Farbflecken. Ich gehe ein kleines Stück zurück und stelle mich hinter ihn vor das Bild. Tatsächlich, was mir bisher nicht erkennbar war: ein kleiner Jaguar. „Und da ist ein Baum!“, er zeigt ihn mir mit dem Finger. „Und da ist eine fliegende Schnecke ganz hoch im Himmel!“, erzählt er weiter. Mit jeder Erklärung tut sich mir eine neue Welt auf. Ich bin vollkommen überrascht, wie sich von einem Moment auf den anderen meine Wahrnehmung und damit meine Wahrheit verändert haben. Tatsächlich ein Jaguar! Tatsächlich Bäume und eine fliegende blaue Schnecke!
„Siehe, ich mache alles neu“, heißt es in der Bibel. Und in diesem kurzen Augenblick vor der Kinderzeichnung bekomme ich eine Ahnung, was dies bedeuten kann. Objektiv besehen, sieht alles genauso aus wie immer, nichts wurde verändert. Es sind die gleichen Formen und Farben. Es sind die gleichen Menschen, denen ich begegne. Es ist die gleiche Situation, die ich erlebe, und doch gibt es diesen Moment. Der Moment, in dem eine neue Erklärung, eine andere Sichtweise, mir die Augen öffnet für eine Wahrheit, die auch besteht. Ich nehme ein Bild, einen Menschen, eine Lebenssituation vollkommen anders wahr!
Damit muss man rechnen, dass sich von einem Augenblick auf den anderen alles verändert. Nur eine kurze Erklärung, ein kurzer Hinweis genügt.
Viele der Menschen, die bei uns in der Telefonseelsorge anrufen oder in die persönliche Beratung kommen, sind nicht mehr offen für eine solche Überraschung. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Feststellung. Und dahinter verbirgt sich eine Not! Es gibt eine Starrheit, aus der wir selbst nicht mehr herauskommen. Starrheit, die unseren Blick auf eine bestimmte Sichtweise verengt, als wäre er fixiert. Sei es im Blick zurück auf die Vergangenheit oder im Blick auf die Zukunft. Menschen fällt es schwer, sich aus langjährigen Beziehungen zu lösen, obwohl sie zerstörerisch sind. Oder die Sorge um die eignen Kinder lässt sich nicht einfach ablegen.
Meist ist es die Angst, die diese Starre auslöst. Die Angst vielleicht davor, etwas zu entdecken, was schmerzhaft ist oder wütend macht. Die Angst vielleicht auch einfach vor Veränderung.
Die Erfahrung scheint verloren, dass eine Wahrnehmung sich verändern, ein neuer Blick erleichtern kann. Damit ist auch die Hoffnung verloren. Ohne eine solche Hoffnung ist es schwer, zu leben.
Leichter wird es, wenn wir uns davon erzählen. Wenn wir von unseren Bildern und Ängsten, von unserer Vergangenheit oder unserer Zukunft erzählen. Denn nur durch Erzählen ist es möglich, dass wir ordnen und deuten. Das hören Andere und bieten ihren Blick und ihre Wahrnehmung an. -
Ich erinnere mich an einige meiner Fahrten mit dem Auto zu einer Verabredung. Das Ziel klar vor Augen, aber zu spät in der Zeit. Jeder vorsichtige langsam fahrende Vordermann wird zum Feind, jede rote Ampel ist eine Kriegserklärung. Voller Ungeduld und Enge bin ich auf dem Weg. Im Kopf nur die Sorge, nicht zu enttäuschen oder Ärger zu bekommen.
In solchen Augenblick tut es gut, überrascht zu werden: Ewas barmherziger mit mir umzugehen oder wenigerperfekt und fehlerlos sein zu wollen. Dann verändert sich der Blick auf die Hindernisse auf einmal. Was zunächst wie ein Hindernis aussah, wird ein überraschender Anlass, die Selbsteinschätzung – Perfektionsdrang und Fehlerfreiheit – zu korrigieren. Manche Hindernisse, die ich erlebe, werden so Antrieb, zu mir und anderen barmherziger zu sein. In solchen Augenblicken fällt mir der Gedanke gar nicht schwer, Gott selbst hätte sich neben mich gesetzt, lautlos mit mir gesprochen und mir seine Sicht von mir erklärt- durch die sich dann auch meine Sicht der Dinge verändern kann.
Wir brauchen Zeit und auch ein wenig Mut, um Neues zu erkennen. Aber vor allem die Bereitschaft, sich überraschen zulassen – von einem anderen Blick – eines Mitmenschen oder Gottes.
Oder eines Kindes, das mir zeigt, wie sich hinter zufälligen Farbflecken ein Sinnbild verbirgt
Autor: Volker Bier